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Michael Mauer, Leiter Style Porsche, und der ehemalige Skirennfahrer Aksel Lund Svindal fliegen mit einem Helikopter auf einen schneebedeckten Berg. Hier beginnt die Geschichte. Ein Gespräch über perfekte Linien und diesen Augenblick, in dem man intuitiv weiß, was richtig ist. Der Helikopter kann hier nicht mehr landen, die Fläche ist schlicht zu klein. Michael Mauer, Leiter Style Porsche, und Aksel Lund Svindal, ehemaliger Skiabfahrts-Weltmeister und Olympiasieger, müssen mit ihrem Ski-Equipment aus dem Hubschrauber springen. Einen knappen Meter nach unten nur, aber der Platz auf dem Berggipfel ist schneebedeckt und kaum größer als ein Badezimmer in einem gewöhnlichen Hotel. Was entschädigt, ist der Ausblick: Wir sind bei St. Moritz, eine neu geschaffene Sky Bar über den Dächern des vielleicht berühmtesten Alpendorfs der Welt. Groß sind hier die Fenster, groß auch der abendliche Aus­blick auf den Moritzersee und das Bergpanorama. Weiße Silhouetten vor leuchtend blauem Himmel – perfekte Linien, von der Natur geschaffen.

  • Vor den beiden Männern erstreckt sich eine unberührte Schneedecke. Michael Mauer ist zwar kein Ski-Weltmeister, fahren kann er aber. Und wie! Unvergessen sind die Bilder, auf denen er nur von einem Seil gezogen hinter einem driftenden Porsche 911 GT2 RS über eine Schneepiste carvt.Hochleistungssport und Design verbindet die Suche nach Exzellenz, nach einer herausragenden Typologie des Moments. In der perfekten Linie materialisiert sich ein Ideal, das auf beide Disziplinen Einfluss zu haben scheint. Die unberührte, weiße Piste wird so zum Symbol für das offene Ergebnis, die vollkommene Freiheit. Aber auch für die Angst des Designers vor dem weißen Blatt Papier, Herr Mauer?

    Michael Mauer: Das Ideal der perfekten Linie definiert mein Ziel, es verschafft mir Orientierung. Im Automobilbereich existieren viele Aspekte, die einschränkend wirken: Gesetzgebung, Aerodynamik. Die Technik – wie jüngst beim Taycan die Positionierung der Batterie. Das bin ich gewohnt. Design ist ein Stück weit immer auch eine Auseinandersetzung, ein Kampf, das finale Ergebnis ist eine ideale Annäherung.

    Und Sie, Herr Svindal, gibt es beim Skirennfahrer die Angst vor der weißen Piste? Aksel Lund Svindal: Nein. Obwohl es im Rennen dann sehr schnell geht und man sehr schnelle Entscheidungen treffen muss, sieht man die Linie irgendwie. Selbst im Schnee, wo alles weiß ist. Mental ist man immer ein gutes Stück voraus. Das merkt man vor allem dann, wenn etwas Unvorhergesehenes, wenn ein Fehler passiert, wenn man zum Beispiel stürzt. Die Realität holt einen zurück ins Hier und Jetzt, wenn man so will. Man ist plötzlich wieder dort, wo man tatsächlich ist, und nicht schon ein Stück in der Zukunft.

    Bevorzugen Sie Kurven oder Geraden? Svindal: Am liebsten fahre ich mit Herausforderungen, Hindernissen und im Gelände – immer so schnell wie möglich. Dabei entstehen Kräfte, die beim Speedskiing nicht existieren. Für mich ist das interessanter. Das ist so ähnlich wie beim Skaten in einer Ramp, das sind im Grunde auch zwei Kurven. Die kann man zum eigenen Vorteil nutzen, um zusätzliche Geschwindigkeit aufzunehmen. Das wiederum eröffnet Spielraum für allerlei technische Lösungen. Kurvenfahrt hat großen Einfluss auf die Wahl des Materials. ­
    Es gibt einfachere und schwierigere Passagen, aber man bremst nie in die Kurve hinein.

    Macht Mut den Unterschied? Svindal: Es geht für mich eher um Selbstvertrauen. Mut ist einfach. Ich glaube, alle Rennfahrer haben Angst, das Risiko ist allgegenwärtig. Aber wenn ich gewissenhaft trainiert habe, weiß ich, dass ich die Eigenschaften mitbringe, um es gut zu machen. Mut allein ist nichts ohne Vorbereitung, ohne das entsprechende Können. Nervös ist man trotzdem, klar.

  • Aksel Lund Svindal nahm 2003 bei der Weltmeisterschaft in St. Moritz teil und wurde im Riesenslalom überraschend Fünfter – niemand hatte ihn auf dem Zettel. Der gebürtige Norweger gewann im Laufe seiner Karriere zwei Mal den Gesamtweltcup, zwei olympische Goldmedaillen und fünf Weltmeistertitel und gilt als einer der Besten seiner Ära. Im Frühjahr 2019 beendete Svindal seine aktive Karriere, liebt und lebt den Ski­-sport aber weiterhin in vollen Zügen aus.

    Herr Mauer, welche Rolle spielt Technik? Mauer: Heute besteht manchmal die Annahme, dass Algorithmen und Künstliche Intelligenz alles lösen können. Junge Designer zeichnen ver­mehrt auf Wacom-Tablets, nicht mehr mit Stift und Papier. Da besteht dann manchmal die unterschwellige Hoffnung, dass Software und Computer das Design erstellen. Dabei ist es immer der Mensch, der Kreativität, Fantasie und Vorstellungsvermögen einbringt – unabhängig vom Medium. In der Lage zu sein, seine abstrakten Ideen zu entwickeln und umzusetzen, darum geht’s.

    Was hilft dabei? Mauer: Wenn ich das technische Handwerk, das Zeichnen nicht beherrsche, meine Idee zu konkretisieren, dann scheitere ich zwangsläufig. Aksel wird die Streif sicher auch nicht runterfahren, weil er eine Intuition hat. Die Intuition muss an einem bestimmten Punkt dazukommen, da spielt dann das Talent eine große Rolle, die persönliche Neigung. Sogenannte happy Accidents, weil ich aufgrund meines Vorstellungsvermögens vielleicht etwas sehe, was andere nicht sehen.Svindal: Es gibt einen Plan A, aber keinen Plan B, C, D oder E. Ziel ist es, stets so schnell wie möglich auf Plan A zurückzukommen. Kleinigkeiten pas­sieren immer, und man muss darauf reagieren können. Bremsen und zurück auf A ist zumindest beim Skirennen eigentlich keine Option. Man musst dort, wo man ist, weitermachen und sehen, dass man so schnell wie möglich auf die richtige Linie zurückfindet, ohne Geschwindigkeit zu verlieren.

    Holger Geschwindner berechnete einst für Dirk Nowitzki den perfekten Wurf – welche Rolle spielt die Theorie? Mauer: Wenn ich ein Modell betrachte, kann ich mitunter nicht genau sagen, was es ist – aber es hat auf mich nicht die richtige Wirkung. Dann ist zuweilen ein Bruch mit Prognosen aus dem Lehrbuch notwendig. Die Technik ist heute noch nicht in der Lage, Dinge immer so auszuarbeiten, dass es richtig, schön und gut wirkt. In diesen Momenten greift im Design der Aspekt Erfahrung. Svindal: Im Skisport macht die Mathematik es oft einfacher, im Team eine Lösung zu finden. Wir nutzen viele Analysetools und Videoelemente. Zwar kann der Athlet auch vieles spüren, aber das ist subjektiv. Wenn es zur Leistungsoptimierung in eine Diskussion geht, kann viel Zeit verlorengehen. Die Mathematik ist dann das objektive Element, steigert die Effizienz und verkleinert den Spielraum auf dem Weg zur perfekten Linie.

    Welchen Einfluss hat hier ein eigener Stil? Mauer: Man kann sich natürlich selbst im Weg stehen. Gerade im Automobilbereich muss die Marke funktionieren. Der Designer muss verstehen, welche Position sie einnimmt, welche Werte sie vertritt. Erst dann kommt die Individualisierung, die Chance, Dinge anders zu machen als der Wettbewerb. Svindal: Beim Freeriding ist das definitiv so, da gibt es riesen Unterschiede zwischen den Fahrern – jeder kann den ganzen Berg nutzen. Im Rennsport ist die Mehrzahl der Variablen gesetzt. Aber natürlich gibt es Kleinigkeiten, die die Athleten unterscheiden: Ich beispielsweise bin 1,90 Meter, das ist groß für meine Sportart. Damit kann ich über größere Wellen fahren, ohne den Bodenkontakt zu verlieren. Ein kompakterer Fahrer hat hingegen weniger Luftwiderstand, mehr Speed, wählt dann aber auch eine andere Linie. Verschiedene Athleten verlieren oder gewinnen ein Rennen in unterschiedlichen Abschnitten.

    Michael Mauer ist einer der wichtigsten Automobildesigner. Nach Stationen bei Mercedes-Benz und Saab avancierte er 2004 zum Chefdesigner der Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG. In Südbaden aufgewachsen, kennt Mauer die Region um St. Moritz wie aus seiner Westentasche, ist als Kind auf dem Piz Corvatsch seine ersten Schwünge gefahren.

    Herr Mauer, wie kommen Sie in einen kreativen Flow? Mauer: Was meine Kreativität definitiv steigert, ist beispielsweise so ein Ausflug mit Aksel. Dabei muss ich mich so auf das Skifahren konzentrieren, dass im Unterbewusstsein Kapazitäten frei werden. Es ist wichtig, zwischendurch immer mal wieder abzuschweifen, bekannte Pfade zu verlassen. Wenn ein Designer an einem Modell arbeitet und über Tage, Wochen das Gefühl hat, dass es nicht perfekt ist, die Proportionen nicht stimmen, wird er nervös. Ich mit meiner Lebenserfahrung weiß mittlerweile: irgendwann kommt sie, die Lösung. Das lässt sich schlecht pushen. Ich glaube nicht, dass ein Ergebnis gottgegeben ist oder einfach vom Himmel fällt. Aber unser Hirn arbeitet im Hintergrund, ohne dass wir es unmittelbar mitbekommen. Svindal: Ich persönlich muss mich immer gut vorbereiten, so intensiv trainieren wie möglich. Im Vorfeld möchte ich mich auf Schwierigkeiten einstellen können und einen Plan entwickeln. Das ist entscheidend, um während des Rennens Ruhe zu bewahren, klar denken zu können und die Nervosität zu überwinden. Dennoch bleibt es unheimlich schwer abzuschätzen, wie schnell das Rennen letztlich wird, wie weit die Sprünge gehen. Manchmal steht man nach dem Vorlauf am Ziel und hat keine Ahnung, wie es klappen könnte. Beim Rennen hat man dann die schnellste Ausrüstung, auch die Wetterbedingungen ändern sich: die Konsistenz des Schnees, die Windrichtung. 5 km/h mehr oder weniger machen in den Kurven einen riesen Unterschied.

  • Und Scheitern – wie versemmelt man erfolgreich? Mauer: Es stellt sich ja immer die Frage, wie man Niederlagen definiert und sie empfindet. Kann ich mich mit einem Design nicht durchsetzen, frustriert das – aber genau dieser Frust kann auch Ansporn sein, meine Argumentation in Zukunft zu verbessern. Solche Situationen sind wichtig für die persönliche Entwicklung, sowohl als Mensch als auch professionell. Svindal: Wenn ich nicht Weltmeister geworden bin, war ich immer wütend auf mich. Aber letztlich helfen dir schwere Niederlagen, die Konzentration noch ein bisschen höherzuschrauben. Meine innere Haltung war immer: Heute ist eine von vielen Möglichkeiten. Wenn es heute nicht klappt, klappt es morgen.

    Wann realisiert man, dass man im Flow ist? Svindal: Auf der Piste spürt man ihn genau: den Rausch der Geschwindigkeit, die Konsistenz des Schnees, die Aerodynamik. Du entwickelst in diesem einen Moment das Gespür, wohin du fahren musst – erst in der Aktion ist das erkennbar. Wirklich perfekt wird es nie sein. Aber mit der entsprechenden Erfahrung realisiert man schon am Eingang der Kurve, wo man rauskommen wird, wie gut die Linie ist. Und wenn es nicht passt, ist die Kunst, schnellstmöglich zurückzukehren, ohne viel Geschwindigkeit zu ver­­lieren – da sprechen wir von Sekundenbruchteilen. Mauer: Im Design ist die Zeitspanne etwas komfortabler. Wichtig ist hier, die Abweichung überhaupt zu akzeptieren. Manchmal ist ein Kompromiss in Teilen des Schaffensprozesses sinnvoll, um in der Gesamtheit näher an das Optimum heranzureichen. Die perfekte Linie im Design kann nur eine Momentaufnahme sein. Es gibt diese Augenblicke, in denen man denkt: Wow, das funktioniert. Mit etwas Abstand verwandelt sich diese Sicht dann in ein: Okay, es geht eigentlich noch besser. Vermutlich ist das ein natürlicher, menschlicher Aspekt.

    Also gibt es die perfekte Linie gar nicht? Mauer: Was ist denn eigentlich die optimale Form, die optimale Linie? Vielleicht ist es die für mich, aber ob das für zigtausende andere Menschen auch zutrifft, ist eine ganz andere Frage. Ein bestimmtes Design kann beispielsweise auf dem Markt nicht funktionieren, weil es seiner Zeit schlicht voraus ist.

    Welche Rolle spielt der kulturelle Einfluss auf die Vorstellung von einer perfekte Linie? Mauer: Im Automobilbereich sind die Unternehmen alle global aktiv. Dennoch gibt es immer einen regionalen Kern, der die Markenidentität prägt. Jede Marke muss entscheiden, inwiefern sie sich auf länderspezifische Anforderungen und Vorlieben überhaupt einlässt. Unabhängig davon konnte ich mich während meiner Zeit in Japan als Mensch weiterentwickeln [Michael Mauer leitete von 1998–1999 das Mercedes-Benz Advanced Design Studio Japan, Anm. d. Red.]. Für jemanden, der im tiefsten Schwarzwald aufgewachsen ist, der die Natur liebt, stellt es eine gewisse Herausforderung dar, in Tokio zu überleben.

    Svindal: Mein Dasein als Spitzensportler war immer durch das Training geprägt. Letztlich ist das eine sehr individualistische Form der Konzentration, vieles macht man mit sich selbst aus. Für mich war es deshalb eher ein Schlüssel, äußere Einflüsse auszublenden. Auch zwischen den Wettkämpfen stand im Vordergrund, zur Ruhe zu kommen – um nachdenken zu können, zu reflektieren.

    Pusht Adrenalin?

    Svindal: Adrenalin kann sich so und so auswirken: Es kann helfen, Rennen zu gewinnen. Aber es kann einem auch vorgaukeln, dass alles okay ist – und eine Stunde später ist man in der Notaufnahme und sitzt im Rollstuhl, weil das Bein völlig steif geworden ist. Dramatische Situationen verbinden einen besonders eng mit Leuten in der unmittelbaren Umgebung. Dabei passiert in sechs Monaten vielleicht etwas, was sonst erst nach sechs Jahren passiert. Dieses direkte Umfeld, dieses gegenseitige Vertrauen war mir immer extrem wichtig, um meine Leistung überhaupt abrufen zu können.

    Mauer: Ich glaube schon, dass der Mensch ab und zu Druck und Stress braucht. In meinem Fall heißt das, die Timeline zu halten, mit limitierten Ressourcen umzugehen. Wenn ein Designer keine Timeline bekommt, macht er bis in alle Ewigkeit weiter. Bei Aksel ist es ja ein bisschen anders: Selbst wenn die Linie nicht ganz perfekt war – die Zeit bleibt unbestechlich!

    Interview: Michael Köckritz, Christian Lamping. Fotos: Stefan Bogner