Die Geschichte des Gotthardpasses ist auch eine Entwicklungsgeschichte der menschlichen Mobilität. In den ersten Jahrhunderten nach der Öffnung der Schöllenenschlucht um das Jahr 1200 herum waren die Händler und Pilger, die den Gotthardpass überquerten, meist noch zu Fuß unterwegs. Im Zuge der Professionalisierung des Saumhandels wurde der Pfad immer weiter ausgebaut und Stück für Stück für Pferde und Ochsen passierbar gemacht. Mit dem Bau der ersten Fahrstraße über den Gotthard begann ab 1830 schließlich das Zeitalter der Postkutschen – das allerdings schon im Jahr 1882 wieder endete, als die Gotthardbahn ihren Betrieb durch den neuen Tunnel aufnahm. Im frühen 20. Jahrhundert erschienen die ersten Automobilisten auf dem Pass, die Straße wurde weiter ausgebaut. Mit dem Boom des Individualverkehrs und Massentourismus fand die Gotthardstraße in der Nachkriegszeit schließlich zu ihrer heutigen Form, bis 1980 der erste Straßentunnel durchs Gotthardmassiv die einst beschwerliche, viele Tage in Anspruch nehmende Reise durch die Alpen auf eine 15-minütige Fahrt verkürzte.
Auf dem Sattel eines Velos, eines Motorrads oder am Steuer eines Automobils kann man den Gotthard deshalb auch als gewaltiges Freilichtmuseum erfahren – ein mehr als 800 Jahre alten Kulturbau, dessen Pfade sich einst an die alpine Topografie schmiegten und dessen Streckenführung über die Jahrhunderte immer mehr dem Ideal der schnellsten und kürzesten Verbindung, der Luftlinie, angenähert wurde. Wir mögen die Teufelsbrücke und die Kurven der Tremola bewundern und in Nostalgie den alten Zeiten nachhängen, als eine Passfahrt noch ein Erlebnis war. Doch historisch betrachtet, hatten auch die schönsten Brücken und sinnlichsten Serpentinen stets nur ein Ziel: Die Reisezeit zwischen Nord und Süd zu verkürzen, die Fahrt schneller, sicherer und bequemer zu machen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir – die wir der maximalen Beschleunigung so nahe gekommen sind – nun genau diese alten Straßen heimsuchen, um die Fahrzeit am Steuer unserer Rennräder und hart gefederten Sportwagen wieder künstlich in die Länge zu ziehen und die einst so gefürchtete Fahrt über den Gotthard als Erlebnis der Entschleunigung zu zelebrieren. Die alten Urner, so ist zu vermuten, hätten wohl verständnislos den Kopf geschüttelt.
Doch wir postmodernen Wesen wissen natürlich längst, dass mit jeder Evolutionsstufe der Mobilität auch ein Stück menschlicher Erfahrung verloren gegangen ist, das man sich nun mühevoll wieder beschaffen muss. Es ist dieses neuzeitliche Bedürfnis nach echten, ungefilterten Erlebnissen, welches uns das Steuer eines klassischen Porsche 356 Speedster aus den 1950er-Jahren ergreifen lässt – der mit seinem spartantischen Verdeck ja nicht viel mehr ist als ein Zwei-Mann-Zelt auf Rädern. Es ist der Wunsch nach Motorenlärm, Benzingeruch und dem Gefühl, über Lenkrad, Schaltung, Gas und Bremse direkt mit der Straße in Verbindung zu stehen, die uns in einen historischen Rennwagen wie den Porsche 911 Carrera RS – oder sogar einen Porsche 906 – steigen und die Passhöhen der Alpen erklimmen lässt.
Tatsächlich ist ein alter Sportwagen das ideale Interface, um die Architektur der Tremola und all der anderen meisterhaft konstruierten Streckenabschnitte am Gotthard nicht nur aus der Entfernung bewundernd zu betrachten, sondern die Steigung, die Kurvenradien, die Beschaffenheit der Pflastersteine auch tatsächlich am ganzen Körper zu erspüren und zu erfahren. Am Steuer dieser leichten, puristischen und aglien Maschinen bekommt man zudem ein Gespür dafür, was es selbst vor 50 Jahren noch bedeutete, über den Gotthard nach Süden zu reisen: Der Aufstieg durch die wilde Schöllenenschlucht, die plötzliche Weite der Landschaft des Urserentals, die heimliche Freude am Pass angesichts der armen Zeitgenossen, die keinen »Luftgekühlten« besitzen und mit offenen Hauben warten müssen, bis ihr Kühlwasser wieder auf Betriebstemperatur heruntergekühlt ist, die ersten Indizien für das nahende Italien in den Tälern des Tessins. Steigt man aus dem einfachen Klassiker in einen modernen Porsche 911 oder gar ein Hybrid-Wunderwerk wie den Porsche 918 Spyder, verbindet sich mit einem Schlag der Traum vom authentischen Erlebnis der Passüberquerung mit dem hyperbeschleunigten Komfort der Tunnelfahrt. Man gleitet so sanft und hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt über den Pass, als säße man im Kino, lässt sich von Thom Yorke in Dolby Surround den epischen Soundtrack einspielen – und gebietet mit einem leichten Druck auf die Pedalerie über gewaltige Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte, die jederzeit entfesselt werden können.
Natürlich spürt man die Fliehkräfte in den engen Kehren des Gotthards stärker als auf den schnurgeraden Autobahnen im Tal – doch das eigentliche Erlebnis der Passfahrt liegt nicht im stumpfen Ausreizen der Grenzen der Physik, sondern im freudvollen »Lesen« der Landschaft mithilfe einer Fahrmaschine, die ausschließlich zu diesem Zweck geschaffen scheint. Und wer die Geschichte der Gotthardstraße kennt, der braucht seiner Vorstellungskraft nur einen kleinen Schubs zu geben, und schon kann er sie vor sich sehen: Die alten Säumer auf ihrem beschwerlichen Marsch durch die Schöllenenschlucht. Die gelbe Postkutsche bei vollem Galopp in den Kurven der Tremola. Die schwarzen Dampfloks in den Kehrtunnels über Wassen. Die ersten Automobilisten im Schatten ihrer eignen Staubfahnen. Die schweren Militärlastwagen auf ihrer Fahrt ins Réduit. Die Touristenbusse der Nachkriegszeit auf dem Weg nach Italien. Einst werden auch wir mit unseren zeitgenössischen Sportwagen, Motorrädern und Velos nicht mehr sein als unscharfe Erinnerungen, als nostalgische Bilder aus einer längst vergangenen Zeit – und ein weiteres Kapitel in der ewigen Gotthard-Geschichte.