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Gut 200 Jahre ist es her, dass die Berge ihren Schrecken verloren und die ersten Alpinisten auf den Gipfeln der Alpen nicht nur den Blick in die Ferne, sondern auch die Konfrontation mit sich selbst und den eigenen Grenzen suchten. Mittlerweile wünscht man den Hochgebirgen jedoch manchmal eine Portion ihrer einstigen Abschreckungskraft zurück – denn jenseits der Baumgrenze scheint die dünne Luft derzeit immer mehr den gesunden Menschenverstand zu trüben. Und man muss gar nicht bis ins Basislager des Mount Everest reisen, in dem es mittlerweile aussieht wie dereinst im Berliner Tiergarten nach der Love Parade. Es genügt ein Ausflug auf eine der bekannten Alpenpassstraßen zur Sommerzeit, um die Grenzen der menschlichen Reflexionsfähigkeit im Hochgebirge zu erleben.

  • Dünne Luft

    Natürlich lieben auch wir die Kurven und Kehren der Alpenstraßen und den Sound eines Motors. Es gibt für einen sportlichen Automobilisten oder Motorradfahrer kaum ein schöneres Erlebnis, als sich an einem klaren Tag im Morgengrauen mit einem adäquaten Gefährt über die Glocknerstraße oder hinauf zum Stilfserjoch zu schwingen. Aber müssen volljährige Menschen – die ja zumindest in der Lage waren, bei der Führerscheinprüfung die Kreuzchen an der richtigen Stelle zu machen – in den ursprünglichsten Naturparadiesen Europas wirklich die Klappen ihrer Auspuffanlagen öffnen, als visuelle Beigabe die Spoiler ausfahren und mit derart heißem Reifen durch die Berge brettern, als ginge es um die Qualifikation fürs nächste Rennen in Monza oder Mugello? Muss man auf öffentlichen, viel befahrenen und durchaus anspruchsvollen Hochgebirgsstraßen wirklich in Kurven ohne Sicht überholen?

    Und ganz egal, ob man als einsamer Kamikaze-Reiter auf seiner Rennmaschine die Grenzen der Fliehkräfte auslotet oder bei der Supercar-Schnitzeljagd durch ganz Europa seinen Rudeltrieb auslebt – wenn man am Berg den Bremspunkt verpasst und sich zwischen zwei altehrwürdigen Kilometersteinen hindurch ins bodenlose Nichts verabschiedet, ist der Moment der Erkenntnis, dass eine Alpenstraße vielleicht doch keine ideale Rennstrecke ist, so intensiv wie kurz. Dieses Jahr haben schon einige Sportfahrer ihr Leben gelassen. Natürlich gab es auch vor 50 Jahren schon sportliche Bergfahrer. Doch wenn James Bond mit seinem Aston Martin DB5 über den Furkapass jagte, dann hatte er 280 PS – und nicht 600 unter der Haube. Viele aktuelle Sportwagen und Motorräder sind für die schmalen und steilen Straßen der Alpen hochgradig übermotorisiert. Das gilt auch für das Fahrerlebnis: Mit einem puristischen Klassiker oder einem kleinen und leichten Roadster kann man die Bergstraßen sicherlich direkter und intensiver erleben als am Steuer eines gewaltigen, hermetisch abgeschlossenen Hypercar-Katapults.

    Seele an Bord

    Auch wir sind natürlich Teil des Problems. Mit jedem Magazin und Buch, in dem wir die Schönheit der Alpenstraßen feiern und sie in ihrer reinen architektonischen Ästhetik ohne störende Blechkarawanen zeigen, erhöhen wir ihre Anziehungskraft. Und uns selbst als vermeintlichen „Kurvenverstehern“ Sonderrechte einzuräumen wäre so elitär wie vermessen. Dennoch bekommt man, wenn man über viele Jahre ständig in den Bergen unterwegs ist und dabei auch aussteigt, die Natur erkundet und sich mit den Menschen dort oben unterhält, einen Sinn für gewisse Zusammenhänge. Man macht sich Gedanken, versucht den eigenen Standpunkt zu verorten, hinterfragt die eigene Verantwortung. Und wenn nicht nur Naturschützer, sondern auch Hüttenwirte, Hubschrauberpiloten, Würstelbräter und Schneeräumer einem berichten, dass sie sich Sorgen machen um den Zustand ihrer alpinen Welt, dann sollte man zuhören.

    Denn mit jedem dröhnenden Höllenhunde-Stakkato, dass die Stille der Bergwelt zerreißt, und jedem Teufelsfahrer in seinem Renngeschoss, der mit dem X-fachen der erlaubten Geschwindigkeit in die Radarfalle und direkt auf die Titelseiten der Regionalzeitungen fliegt, beginnt die Diskussion, ob man die Alpenpässe nicht lieber ganz für den motorisierten Verkehr sperren sollte. Südtirol hat mittlerweile im Rahmen des Projektes „Dolomitesvives“, dass die Dolomitenregion wieder lebenswerter machen soll, die Sellajochstraße in den Sommermonaten von 9 Uhr bis 16 Uhr gänzlich geschlossen. Für 2019 wird dort eine generelle Regelung erwartet – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis andere Landesregierungen nachziehen werden.

    Unsere Antwort auf diese Diskussion findet sich im Untertitel dieses Magazins wieder, der uns als Leitmotiv gilt: Soulful Driving. Dass bedeutet ganz simpel, das Fahrerlebnis zu genießen und der alpinen Natur wie auch allen anderen Menschen auf und um die Straße mit Respekt zu begegnen. Sich Zeit zu nehmen, die Alpenstraßen zu erkunden und zu entdecken. Und nicht derart aufs Gas zu drücken, dass die Seele dabei zwangsläufig auf der Strecke zurückbleiben muss.

  • Und noch ein verwegener Gedanke zum Schluss: Obwohl wir Motoren lieben - vielleicht ist der schönste Soundtrack für eine Tour durch die Alpen nicht eine Benzinmaschine, sondern das leise Surren eines Elektromotors. Für viele Petrolheads ist der Gedanke noch immer unvorstellbar. Wer aber einmal an einem schönen Tag im Oktober mit einem elektrifizierten Sportwagen so lautlos wie agil durch die Kurven des Ofenpasses geglitten ist – das Fenster heruntergelassen, das Cockpit erfüllt vom Duft der Arven und für einen Moment auch vom Glucksen eines Gebirgsbachs –, für den ist klar, wohin die Reise geht. Noch ist die Technik nicht ausgereift für den Härtetest im Hochgebirge, doch die Entwicklung geht rasant voran. Wichtiger als die Reichweite der Batterien ist zunächst aber die Erkenntnis, zu welch intensiven und eindrücklichen Erfahrungen uns die neuen Technologien ermächtigen. Und wie wir den Bergen ihre einstige Stille zurückgeben können – ohne sie als Sehnsuchtsorte ganz zu verlieren.