Wenn im Osten die Sonne aufgeht und ihre langen Fühler nach Westen ausstreckt, jeden Gipfel antippt und alle der Reihe nach Westen, einen nach dem anderen, in orangefarbenes Licht taucht, dann sollte sich der Zündschlüssel drehen. Langsam sollte das Auto vom Hof des Hotels rollen und in dem ausgestorbenen Dolomitental sollte sich das Öl langsam erwärmen. Spätestens wenn ein grünes Verkehrzeichen den nächstgelegenen Pass für geöffnet erklärt, dann darf es losgehen: Drehzahlmesser in den roten Bereich, Drosselklappen öffnen und Pferdestärken trompeten möglichst ungehemmt ihr Lied.
Noch stehen die Ducatis in Verona angeleint an ihren Laternenpfosten, die Traktoren ruhen in Canazei neben ihren Misthaufen und die Wanderstiefel hängen im Skikeller auf ihren gewärmten Haken. Noch bist Du allein. Die Strasse ist leer. Sie wartet. Sie ruft. Und Du bist der Einzige, der sie hören kann. Jetzt geht es zum Tanz. Linker Fuß kuppeln, rechte Zehenspitze auf die Bremse, mit der Ferse ein wenig Zwischengas. Die rechte Hand führt, den Schaltknüppel einen Gang tiefer, der linke Fuß langsam zurück, die Augen zum Scheitel der Kurve, der rechte Fuß gibt das Kommando: Vollgas. Ideallinie. Weit heraustragen lassen. Möglichst rund. Wenig lenken, große Radien, kleine Bewegungen. Jetzt hörst Du die Musik. Der Rhythmus entsteht. Niemand stört. Alles ist in Bewegung. Alles ruht. Es ist sehr laut. Und doch ganz kannst nur Du es hören. Psychologen nennen es Flow. Wir nennen es soulful driving.
Und ja, es ist schwer, wenn der Wecker so früh klingelt. Und ja, es gibt noch kein Frühstück. Und ja, es ist ein freier Tag. Aber wenn Du dann, nach ein, zwei oder drei Stunden, irgendwo, oberhalb der Baumgrenze, in ein kleines Café gehst, und der erste Gast bist, der einen Cappuccino bestellt, mit dem heißen MilchKoffeinGemisch nach draußen geht und der Motor Deines Auto leise tickt, dann weißt Du, Du hast alles richtig gemacht. Weiter geht es, weg von der Zivilisation, weg von Autobahnen und Städten mit einem eigenen Kennzeichen, weg von Strassen mit einem Mittelstreifen. Noch ist mehr Sauerstoff in der Luft als mittags, und langsam erwärmt sich der Asphalt. Hin und wieder kommt jetzt ein Motorradfahrer in einer Rechtskurve Deinem Außenspiegel gefährlich nahe, und die ersten Radler prüfen Deine Reaktionen. Der Ruf der Strassen wird nun lauter und immer mehr können ihn hören. Wenn sich die Sonne immer weiter in den Süden und immer höher schiebt, dann wird es Zeit.
Zeit wieder ins Hotel zu fahren. Ein Ossobuco mit Polenta zu essen und einen schweren Rotwein zu trinken. Und Dich mittags ins Bett zu legen. Und zu schlafen. Leise tanzen Deine Füße noch den Rhythmus, links, rechts, kuppeln, Gas, Bremse. Die Mundwinkel bleiben oben. Denn Du weißt, wenn sich heute am späten Nachmittag, die Strasse wieder leert, dann wirst Du wieder alleine mit ihr sein. Und sie wird wieder nur Dir gehören. Aber das ist eine andere Geschichte.
(c) Text: Matthias Wetzel • Fotos: Stefan Bogner
Matthias Wetzel schreibt, obwohl er lieber fährt. Matthias lebt genau zwischen dem Nürburgring und dem Apennin am Starnberger See, weil es dann hin und zurück gleich weit ist. Matthias hat ein Zitat von Steve McQueen umgeschrieben: Racing a 911 is life. The rest is just waiting.