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Was tut man als sizilianischer Graf am Anfang des 20. Jahrhunderts, wenn einem die schönsten Bergstrassen der Insel gehören? Ganz einfach: Man ruft eines der anspruchsvollsten Langstreckenrennen für Automobile ins Leben – und lockt die besten Rennfahrer der Welt nach Sizilien, die bei der Targa Florio die nächsten 70 Jahre die Reifen qualmen lassen.

  • Als der sizilianische Weinhändler und begeisterte Automobilist Vincenzo Florio im Frühjahr 1906 die „Targa Florio“ ins Leben ruft, steckt der Motorsport in Europa noch in den Kinderschuhen. Der kleine französische Ort Le Mans ist höchstens für seine gotische Kathedrale bekannt, von einer „Mille Miglia“ soll man die kommenden 20 Jahre ebenfalls noch nichts hören und auch der junge Enzo Ferrari drückt noch die Schulbank. Doch Florio ist ein wahrer Automobilpionier und der Geschwindigkeitssucht hoffnungslos verfallen; schon 1900 ruft er das erste Automobilrennen Italiens ins Leben – die Coppa Brescia, die später unter dem Namen ihres Finanziers als Coppa Florio startet. Auch die Bewohner des kleinen Bergdorfes Cerda östlich von Palermo staunen nicht schlecht, als am Morgen des 6. Mai 1906 zehn qualmende und dröhnende Automobile zu einem 148 Kilometer langen Rundrennen antreten. Die Rennwagen starten mit zehn Minuten Abstand; nach 9 Stunden und 32 Minuten hat Alessandro Cagno auf seinem Itala die drei Runden und 148 Streckenkilometer als schnellster Fahrer absolviert – und den Titel der ersten Targa Florio sicher. Es ist der erste von zahlreichen Siegen, die in die Geschichte des Motorsports eingehen sollen.

  • Ab 1912 wird die Targa Florio verlängert – der Rundkurs führt nun fast über die gesamte Insel, 975 Kilometer müssen die Fahrer bewältigen. Über die Jahre ändert sich die Strecke jedoch immer wieder, mal sind es 108 Kilometer, mal nur 72 Kilometer. Und die „Targa“ ist anspruchsvoll, um nicht zu sagen gefährlich: In halsbrecherischen Kurven führt das Rennen durch die schroffe Bergwelt Siziliens, die Spitzkehren und Serpentinen fordern Fahrern und Maschinen das Äußerste ab. Doch nicht nur Agilität, auch Geschwindigkeit ist gefragt: Auf der mehr als sechs Kilometer langen Küstengeraden von Buonfornello darf man den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen, ohne seine Chancen auf den Sieg zu verspielen. Für die Ingenieure der Sportwagenmarken ist die Targa Florio deshalb der ideale Stresstest für ihre neuesten Entwicklungen. In den 1920er Jahren sind es Ettore Bugattis geniale Grand-Prix-Rennwagen vom Typ 35, die das Rennen dominieren und die Targa Florio gleich fünf Mal in Folge gewinnen. Ab den 1930er Jahren folgen die genialen italienischen Rennsport-Katapulte wie die Alfa Romeo 8C der Scuderia Ferrari – anfangs mit dem legendären Tazio Nuvolari am Steuer – und die Maserati 6CM Werksrennwagen, die in den sizilianischen Bergen nicht zu schlagen sind. Auch in der Nachkriegszeit verliert die Targa Florio nicht an Anziehungskraft. Die ersten beiden Rennen nach der Zwangspause gewinnen zwei Rennwagen, die neuerdings den Namen ihres Konstrukteurs tragen: Enzo Ferrari. Es sollen nicht die letzten sizilianischen Siege der Rennpferde aus Maranello bleiben. In den 1950er Jahren treten auch die deutschen Rennställe bei der Targa Florio auf den Plan. Unvergessen bleiben der Sieg von Stirling Moss und Peter Collins am Steuer eines Mercedes-Benz 300 SLR Werksrennwagens im Jahr 1955, der Mercedes den Weltmeisterschaftstitel einbringt, und der Triumph von Huschke von Hanstein und Umberto Maglioli auf ihrem Porsche 550 RS 1500 im Folgejahr. Für Porsche ist die Targa Florio untrennbar mit dem Siegeszug der Mittelmotor-Rennwagen verbunden – mit 11 Siegen stehen die Stuttgarter im ewigen Gesamtranking sogar vor Alfa Romeo und Ferrari. Auch der Porsche 911 Targa erinnert bis heute daran, wie wichtig das sizilianische Rennen für die Erfolgsgeschichte Porsches ist.

  • In den 1960er Jahren geht die Trophäe schließlich zwischen Porsche und Ferrari hin und her. Die Siegerlisten lesen sich wie ein Who-is-Who der Rennsportlegenden: Fahrer wie Wolfgang von Trips, Jo Bonnier, Hans Herrmann, Graham Hill und Vic Elford demonstrieren auf den engen Bergstraßen ihr ganzes Können, während siegreiche Sportwagen wie der Ferrari Dino 246 SP und die triumhalen Porsche-Geschosse 904 GTS, Carrera 6 und 910 bis heute zu den begehrtesten Rennsport-Klassikern gehören. Die Siegerwagen von einst sind längst in Sammlungen verschwunden und unbezahlbar geworden. Ab den späten 1960er und frühen 1970er Jahren führt die harte Konkurrenz unter den Marken dazu, dass bei der Traga Florio immer stärkere und brachialere Prototypen-Rennwagen starteten: Wer dabei ist, als Fahrer wie Nino Vaccarella in seinem 600 PS starken Ferrari 512S durch enge Bergdörfer rasen, während die Zuschauer nur Zentimeter entfernt auf Küchenstühlen vor ihren Häusern sitzen, kann Rundenrekordhalter Helmut Marko nur beipflichten, als er kopfschüttelnd sagt: „Die Targa Florio ist völlig verrückt geworden!“ Den Streckenrekord hält ab 1970 übrigens Leo Kinnunen, der die Targa in seinem Porsche 908/3 Spyder mit einer wahnwitzigen Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 129 km/h absolviert. Doch der Rausch fordert seinen Tribut: Die Sicherheitsvorkehrungen sind minimal. Und immer öfter kommt es zu Unfällen, bei denen nicht nur Rennfahrer, sondern auch Zuschauer ums Leben kommen. Nach dem Rennen von 1973 wird die Targa Florio aus dem Weltmeisterschaftkalender verbannt, das letzte Rennen wird 1977 schließlich von der Polizei vorzeitig abgebrochen. Es ist das Ende einer Ära. Die Legenden um das vielleicht härteste Straßenrennen der Welt bleiben jedoch bis heute unvergessen.

  • (c) Text: Jan Baedeker • Bilder: Stefan Bogner