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Vor zehn Jahren ging es los mit Stefan Bogners großem Kurvenreigen. Seitdem sind 16 Ausgaben der „Curves“ und ebenso viele Bücher erschienen. Co-Autor Jan Karl Baedeker blickt zurück.

  • Ist Kurve eigentlich gleich Kurve? Es gibt Fragen, die sollte man Stefan Bogner nicht stellen, wenn man eigentlich gleich los muss. Denn die Antwort dürfte länge dauern. Und er könnte sie wahrscheinlich auch auswendig aufsagen, wenn man ihn nachts im Basislager auf 6.000 Metern aus dem Biwak ziehen würde. „Jede Kurve ist besonders. Es gibt lange Kurven, kurze Kurven, enge Kurven, steile Kurven, es gibt Spitzkehren und Haarnadeln, es gibt Caracciolakurven – die sind zur Innenseite hin stark geneigt, es gibt Doppel- und Dreifachkurven, die wildesten Kombinationen. Dann gibt es Kurven, die eng zumachen, und die man nicht unterschätzen darf. Kurven, die ins Nichts führen. Und die Verwandlungskünstler unter den Kurven – die unsteten Mischkurven, die so bittersüß sind wie gefährlich.“

    Dabei sind es ja nicht nur die Kurven selbst – also jene mathematisch definierten Trassierungselemente von Verkehrswegen –, die Stefan Bogner so faszinieren. Vielmehr sind es die Straßen als Gesamtkunstwerke im Kontext der Landschaft, denen sich der Herausgeber, Fotograf und Produktgestalter mit seinem Magazin „Curves“ verschrieben hat. Vor zehn Jahren erschien das erste Heft. Ich erinnere mich noch recht genau an diesen Tag im Jahr 2011: Zwischen all den Pressemappen, die man damals tatsächlich noch analog mit der Tagespost in die Redaktion geschickt bekam, rutschte ein griffiges, elegant gelayoutetes Magazin mit der Aufschrift «Curves» hervor. Nach kurzem Reinblättern war ich so überrascht wie begeistert: Im ganzen Heft fand sich kein einziges Auto – dafür aber umso betörendere Fotografien menschenverlassener Alpenstraßen, begleitet von wunderbar experimentellen Texten aus dem Grenzgebiet zwischen Popjournalismus und Literatur. «Und während man sich mit feuchten Fingern von den Haarnadelkurven des Col du Petit Saint-Bernard im Norden bis hin zum mediterranen Col de Turini durchblättert, meint man in alpiner Ferne bereits die Reifen quietschen und Jane Birkin ihr „Je t’aime“ stöhnen zu hören», frohlockte ich damals in meiner Rezension bei Classic Driver.

  • Kurz darauf traf ich Stefan Bogner zum ersten Mal. Wir verstanden uns bestens und er fragte mich, ob ich nicht ein Vorwort für sein Buch „Escapes“ schreiben wollte. Das Thema: Die schönsten Pässe der Alpen. Ich sagte sofort zu. Seitdem haben wir immer wieder zusammen gearbeitet und gemeinsam eine ganze Reihe von Büchern herausgebracht – unter anderem die Alpenpass-Reihe „Porsche Drive“ und das Designbuch „Porsche Unseen“. Doch noch monumentaler als die beachtlichen Stapel telefonbuchdicker, selbst herausgegebener Bildbände, die sich in seinem Büro in München zu alpinen Formationen stapeln, ist die Bücherregal-Steilwand, in der sich die Gesamtausgabe seines Magazin „Curves“ über Raumesbreite erstreckt: 16 Bände umfasst die beim Delius Klasing Verlag erschienene Reihe bereits, darunter finden sich die großen europäischen Road-Trip-Klassiker in den Alpen, aber auch Norddeutsche Küstenstraßen, schottische Hochlandrouten, Dschungelpisten in Thailand, kalifornische Highways und Landstraßen im portugiesischen Hinterland. Dieses Frühjahr erscheint die Norwegen-Ausgabe, die Straßen durch atemberaubende Fjordlanschaften verspricht. Ein Ende ist nicht in Sicht.

    In den letzten 10 Jahren hat Stefan Bogner sein Magazin «Curves» konsequent weiter geführt – und mit beeindruckender Konsequenz und Zielstrebigkeit die schönsten Straßen der Welt kartografiert. Dabei stehen nicht nur die beeindruckenden Landschaften im Zentrum, die man mittels der Straßen erfahren kann, sondern auch die Asphaltbänder selbst. «Warum verehren wir eine Golden Gate Bridge und zählen die Rhätische Bahn zum Welterbe, vergessen aber die kunstvollen Straßen der Alpen?», fragt Bogner immer wieder. Und verneigt sich mit seinen «Curves»-Heften vor den Baumeistern und Ingenieuren, die uns Meisterwerke wie das Stilfserjoch, den Sustenpass oder die Tremola geschenkt haben. „Für mich sind das die Pyramiden des Straßenbaus.“

    Und natürlich kommt es auch hier auf die feinen Unterschiede an: Es gibt liebliche Passstraßen, die man mit sanftem Schwung ersteigt, wie etwa den Col de la Bonette. Und extreme Anstiege wie das Stilfserjoch, die man förmlich erkraxeln muss. Es gibt die Pässe, die einen durch fast alle Klimazonen führen wie das Timmelsjoch – da fährt man unten im Sommer los und kommt oben im Winter an. Und es gibt die „Mindblower“, mit denen man nicht gerechnet hat. Da steht man dann an einer namenlosen Passhöhe im Thailändischen Dschungel und fragt sich: Was war das denn gerade?

  • Für Stefan Bogner ist es aber nicht nur das Spiel zwischen Straße und Topographie, das für ihn den ästhetischen und fahrdynamischen Reiz ausmacht. Auch das Wissen über die Geschichte der Straßen zählt zum Erlebnis dazu. Da gibt es Straßen, die wurden schon seit Jahrtausenden genutzt. Oder Militärstraßen, die an die dunklen Kapitel der Alpenkriege erinnern. Und es gibt Straßen wie etwa den Sustenpass oder die Grossglockner Hochalpenstraße, die wurden als Landschaftskinos auf ein panoramisches Fahrerlebnis hin komponiert. Das sind Kunststraßen im wahrsten Sinne des Wortes. Es gibt weltberühmte Straßen wie den Gotthardpass – und Traumstraßen, die niemand kennt. Und die man auch nicht weiter verrät, so wie man einen Pilzplatz im Wald für sich behält.

    Und doch geht es Stefan Bogner nicht darum, Straßen wie Pfifferlinge zu sammeln oder auf einer Buchet List abzuhaken. Wenn ihn ein Asphaltband erst einmal in seinen Bann gezogen hat, kommt er zurück – immer und immer wieder! „Die fünf Pässe um Andermatt herum bin ich sicher schon 100 Mal abgefahren. Und trotzdem wird mir dabei nie langweilig. Das Licht, das Wetter, die Jahreszeit ist immer anders. Das ist wie bei einem klassischen Musikstück, bei dem man mit jedem Hören etwas Neues entdeckt.“ Wichtig ist für die Magazin- und Buchprojekte auch immer die intellektuelle die Auseinandersetzung mit der Bau- und Kulturgeschichte einer Straße. Wenn man von einem Alpenpass, den man schon unzählige Male unter die Räder genommen hat, in einem Archiv plötzlich alte Kupferstiche oder Ingenieurszeichnungen entdeckt, erschließt sich die Kunstfähigkeit und Leistung dieser Baumeister in völlig neuer Dimension. „Wenn man sich erst einmal mit der Historie auseinander gesetzt hat, sieht man diese Kurven und Kehren mit völlig anderen Augen – und mit einer Menge Respekt.“ Auch mit der eigenen Geschichte hängen die Straßen für Stefan Bogner zusammen. „Auf diesen Pässen waren schon meine Großeltern unterwegs und auch meine Kinder sind ab und an dabei – auch wenn sie sich momentan noch vom Rücksitz aus beschweren. Für mich persönlich sind die Berge, die Straßen und die Natur meine Kraftquelle, hier lade ich meine Akkus auf.“

  • Dabei ist es durchaus eine Tour de Force, bei einer „Curves“-Produktion mit auf Achse zu sein. Dass der Lagrein am Abend gut schmeckt heisst nicht, dass man morgens um Punkt sechs Uhr nicht mit laufendem Motor auf dem Parkplatz zu stehen hat. Und wenn das Wetter nur eine Stunde gutes Licht zum Drehen verspricht, werden die zwölf historischen Rennwagen halt etwas zackiger über den Berg gejagt – passt scho! Eine halbe Million Kilometer hat Stefan Bogner mit seinen klassischen und modernen Porsche 911 sicherlich schon abgespult im Dienst der Sache. Hinzu kommen geschätzte zwei Wochen, in denen er am Gurt aus einem Helikopter hing, die Kamera in der Hand, und etwa 48 Flugstunden für die Luftaufnahmen. Wenn er ausnahmsweise einmal im Basislager in München weilt, werden Bilder bearbeitet, Bücher gelayoutet, neue Erscheinungsbilder und Strategien für seine Designkunden erstellt. Zwei Wochen Nichtstun am Strand, es wäre ihm wohl ein Graus.

    Und doch ist der Kurvenreigen kein Selbstzweck. Im Gegensatz zu anderen Publikationen gelingt «Curves» das Kunststück, nicht zu altern – sondern stets relevant zu bleiben und seinen Lesern einen echten Mehrwert zu bieten. Gerade in diesen Zeiten des Stillstands haben wir immer wieder eine alte Ausgabe aus dem Regal gezogen, um darin zu blättern, in Gedanken durch die Serpentinen zu preschen, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren – und Reisepläne zu schmieden für die Zeit nach dem Lockdown.

    Bemerkenswert ist auch, das «Curves» in Zeiten beliebig auswechselbarer Instagram-Looks und Filter einen ganz eigenen, unverwechselbaren Bildstil entwickelt hat – mit glühenden Farben und einer Schärfe, wie sie nur ein Zeiss-Objektiv einzufangen vermag, aber eben auch diesen etwas melancholischen Stimmungen, wenn auf den braungelb ausgeblichenen Matten der Alpentäler noch die Schneefetzen liegen und die Nebelschwaden immer wieder die Sichtweite auf einige Meter verringern. Andere Fotografen würden bei diesen verhangenen Bedingungen abbrechen, Stefan Bogner kommt dann erst in Fahrt. So wie die Romantiker des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich angesichts der Dramatik und Erhabenheit der Bergwelt gruselnd ihrer geringen Größe in den Unendlichkeiten des Kosmos bewusst wurden, so durchzuckt einen angesichts der Bognerschen Kurvenpanoramen schon eine gewisse Ehrfurcht vor den Wundern der Natur – und dem menschlichen Willen, selbst die unwirtlichsten Landschaften zu überwinden. Diese Philosophie der respektvollen Bewunderns spricht sportliche Automobilisten genauso an wie Menschen, die ihre Pässe lieber mit dem Motorrad oder dem Velo erklimmen.

    Unterstützt wird Stefan Bogner bei „Curves“ und vielen weiteren Projekten von Porsche. Und es macht Freude zu beobachten, wie aus der naheliegenden Liaison eine authentische und kreative Partnerschaft entwickelt hat, die scheinbar immer neue Höhen erreicht. Man darf gespannt sein, in welche Richtung sich die schönste aller Kurvenverehrungsschriften entwickelt – und welche Rolle die Elektromobilität künftig einnehmen wird. An wunderbaren Kurven, die es sich in aller Welt zu entdecken und zu dokumentieren lohnt, mangelt es freilich nicht. Auf die nächsten zehn Jahre.